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Ichling in Bedrängnis

Nun jährt sich Corona auch in Deutschland bald zum ersten Mal und vieles von dem, was uns heute bewegt und zum Alltag geworden ist, wäre vor 12 Monaten kaum denkbar gewesen. Homeoffice ganzer Firmen über Wochen und Monate, Maskentragen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und tägliches Verfolgen von Fallzahlen, Impfentwicklungen und Inzidenzwerten. Die Normalität, mit der wir uns in der Familie zu fünft eingeigelt haben, soziale Kontakte stark reduziert haben und wir unseren Verpflichtungen nun digital nachgehen, ist erstaunlich und auch manchmal ein wenig bedrückend. Wie schnell doch Routinen sich ändern und anpassen. Oft, gerade wenn man die Gedanken ein wenig schweifen lässt, kommen Fragen, die die Zukunft betreffen. Wie wird sich das alles fügen? Was wird davon zurückbleiben? Was bedeutet diese Phase für meine jugendlichen Kinder? Was wird die Kleine davon behalten und mit welchen Folgen? Wie schafft eigentlich meine Frau das alles und woher nimmt sie diese irre Kraft? Wie stabil sind Job und Finanzen auf Dauer und kommt da nun noch mehr auf uns zu?

Was mich jedoch zunehmend beschäftigt und (das muss ich zu meiner Schande leider zugeben) auch zunehmend ungeduldiger, ja teilweise sogar aggressiver oder zumindest unwirsch werden lässt, ist das Verhalten und die Haltung, die von vielen Menschen – auch in meinem engeren Umfeld – nun gezeigt wird. Wie wahr, – wir haben es oft gehört: Corona ist wie ein Brandbeschleuniger, ein Brennglas. Wie ein Katalysator werden Stärken und Schwächen mit noch mehr Kontrast als unter normalen Bedingungen zutage gefördert und daher sichtbar. Ein für mich sehr unangenehmer und nun oft sehr sichtbarer Aspekt ist eine Egozentriertheit und Anspruchshaltung, die ich wie einen quietschenden Lärm in meinem Umfeld, in den öffentlichen Diskussionen und den Medien beobachte.

Man kann von den Maßnahmen der Regierung und den Verantwortlichen halten, was man möchte. Unterschiedliche Meinungen gehören zu einer demokratischen Gesellschaft, sind verfassungsrechtlich verbrieft und Menschen haben in der Vergangenheit teilweise mit ihrem Leben dafür gekämpft, dass wir diese Verfassung haben.

Aber eben über diese geäußerten Meinungen muss ich mich vermehrt wundern. Wundern deshalb, weil nun wie in anderen Bereichen auch etwas zum Vorschein kommt, was schon vor Corona begonnen hat, den Zeitgeist zu prägen und nun schriller als vorher Gehör finden möchte: Ichbezogenheit.

Ich tue mir sehr schwer nachzuvollziehen, wieso viele Menschen von einer derart großen Egozentriertheit geleitet sind. Entwicklungen, sich ändernde Rahmenbedingungen, politische Entscheidungen – einige beziehen das alles auf sich. Teilweise mit einer unreflektierten Wut gegenüber echten oder vermeintlichen Obrigkeiten, die mich befremdet. Wie kleine Kinder, die unreflektiert jedes Geschehen auf sich beziehen, straucheln einige durch die aktuelle Zeit und wittern hinter jeder Entwicklung einen Angriff auf die persönliche Lebensführung. Diese bartholomäeische Weltanschauung, in der das ICH zum Zentrum allen Seins gemacht wird, befremdet mich. Ist es nicht gerade in der aktuellen Zeit mehr als wichtig, die eigenen Befindlichkeiten zu mäßigen, einen etwas reiferen und größeren Blick auf das Gesamte zu werfen und aus dieser Perspektive heraus zu entscheiden, was das Richtige ist?

Vor ein paar Wochen hatte ich einen Austausch mit einem Kollegen, – auch ein Coach. Jemand, der anderen neue Skills beibringt, neue Perspektiven schenkt und hilft, Gegebenes zu akzeptieren und zu gestalten. In unserem Gespräch hat er sich bitterlich über die die derzeitigen Auflagen beschwert und mir versucht einen Zusammenhang aufzuzeigen, der belegt, dass das alles mit Absicht gemacht wird, mit dem Ziel, Menschen wie ihm zu schaden. Ich war richtig sprachlos von soviel Ichbezogenheit. Und wer mich kennt, weiß, dass ich nicht zur Sprachlosigkeit neige.

Gepaart wird die Egozentrik oftmals mit einer dicken Portion Anspruchshaltung. Einschränkungen möchte ich nicht, aber Garantie für beste medizinische Versorgung im Fall der Fälle dann schon. Steuern erhöhen bitte nicht, aber alles wie bei einem All-inclusive-Urlaub bezahlen bitte schon.

Wie erklärt sich dieser laute Schrei, der Staat, die Medizin, die Wissenschaft solle sich raushalten, einen ja nicht beschränken und am besten keine unangenehmen Dinge thematisieren oder entscheiden, auf der anderen Seite aber lauthals nach Unterstützung, Hilfe, Auffangen und Versorgung schreien.

Da erlebe ich Menschen, die sich vormals lautstark aus Angestelltenverhältnissen gelöst haben, weil sie „ihr eigener Herr“ sein wollten. Sich die Kunden aussuchen möchten und sich nichts sagen lassen möchten. „Unternehmer“, die lautstark über den Staat geschimpft haben, jede Steuer als eine Art Strafe empfinden und nicht als ein Beitrag für diesen Sozialstaat. Die jegliche behördliche Steuerung als Bürokratie und Gängelung sehen und keine günstige Gelegenheit verstreichen lassen, Dinge „nach Feierabend“ zu erledigen und sich schwarz vergüten zu lassen. Schadet ja keinem, nicht wahr?

Und mit dem gleichen Selbstbewusstsein wird nun – und zwar schon im ersten Monat des ersten Lockdowns – nach Kompensation und staatlicher Hilfe gerufen, wie man sie sich im Kommunismus nicht besser hätte backen können.

Nichts liegt mir ferner, als vor allem in dieser krassen Zeit bedrohten Existenzen die nötigen Hilfen zu versagen. Ja, ich finde, der Staat, die Gesellschaft, – wir alle – haben hier eine Verpflichtung und es wird nur im Kollektiv gehen, diese Pandemie zu überwinden. Gleichwohl wünschte ich mir, dass hier der Blick etwas geschärft wird und auch etwas mehr Respekt denen gegenüber gezeigt wird, die Verantwortung versuchen zu tragen und versuchen zu gestalten und nicht nur laut „ICH ICH ICH“ rufen.

Ich persönlich glaube, dass uns diese Krise zeigt, wohin uns die Individualisierung gebracht hat. Der attraktive Ichling ist in Bedrängnis und was als ein Wunsch nach Selbstverwicklung begonnen hat, droht zur Eitelkeit zu verwildern. Wir versuchen den/die perfekten PartnerIn zu finden und tindern uns die vermeintlichen besten Matches zusammen – und erleben dennoch immer weniger echte Partnerschaft und Beziehung und die Quote der unfreiwilligen Singels – zumindest in meinem Umfeld – ist enorm gestiegen. Die Wunschliste, wie der/die TraumpartnerIn sein soll, ist lang – und dabei ist man selbst nicht frei von Schwächen und Marotten, die der/die andere natürlich bereitwillig akzeptieren soll.

Es wird nach dem perfekten Job gesucht und jede Alltagswidrigkeit gleich als Angriff auf die eigene Selbstverwicklung – und dabei echte Entwicklungschancen nicht ergriffen und als zu unbequem bei Seite gelegt. Der Arbeitgeber und die Führungskraft hat für alles Sorge zu tragen: Die eigene Entwicklung, das Wohlbefinden, die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, die Bequemlichkeit, was die Vereinbarkeit von Job und Privatleben angeht. Aber unangenehme Themen und Aufgaben soll bitte jemand anderes im Team bearbeiten. Oder die Chefin selbst.

Für mich das perfekte Smartphone, die perfekte Reise, das perfekte Hobby. Die schönste Wohnung und die besten Klamotten. Ungern von der Stange – am liebsten selbst konfiguriert und zusammengestellt. Ja kein à la carte – für mich bitte was Ungewöhnliches und Neues. Weil ich es wert bin. Weil ich was Besonderes bin. Aber natürlich zu günstigen Preisen.

Diese Haltung treibt uns gesellschaftlich und ökologisch an den Abgrund – und zwar schon vor Corona. Und ich finde, es wird Zeit, damit zu starten, wieder mehr „Wir“ dem „Ich“ hinzuzufügen.

Wir sind alle einmalig – ja. Wie Schneeflocken. Oder Daumenabdrücke. Die sind auch alle einmalig. Aber es gibt halt verdammt viele von diesen einmaligen Erscheinungen. Und in dieser Einmaligkeit sind wird uns dann doch wieder alle sehr sehr ähnlich. Einmalig heißt nicht zwingend besonders! Wir sind fast 8 Milliarden Menschen auf dieser Welt. Wie kann man da ernsthaft für sich den Anspruch erheben, etwas Einmaliges zu sein?

Ich denke schon, dass jede/r von uns etwas Besonderes sein kann. Etwas Besonderes für sein Umfeld. Für seinen Partner oder seine Kinder. Ein besonderer Kollege vielleicht oder ein besonderer Freund. Es liegt bei uns, unser Leben so zu gestalten. Aber keine/r von uns ist das Zentrum der Welt. Und es ist gesund, das zu akzeptieren. Darin liegt die Chance, dass die gekränkte Seele, die sich derzeit so falschverstanden und gegängelt fühlt, heilen kann. Sich mehr als Teil des Ganzen zu verstehen, als eine/r unter vielen, jemand, der in seinen Kreisen Wichtiges tun kann und besonders sein kann, dem aber andere nichts schuldig sind, weil andere ja auch einmalig sind und die gleichen Ansprüche haben, – das verstehe ich unter einem reifen und ausgeglichenen Individualismus. Wir bekommen nichts Fertiges geschenkt, aber die Chance, etwas zu fertigen! Es ist und bleibt aber mit Mühe und Arbeit verbunden. Und das nimmt kein Staat, kein Partner, kein Arbeitgeber und auch keine Freunde ab. Das ist die Lebens- und Entwicklungsaufgabe eines jeden Menschen. Als Pädagoge würde ich wohl sagen: Mündigkeit und Emanzipation.

Daher wünsche ich dem Ichling in uns allen, dass er weiterhin auf sich achtet, seinen Blick aber weitet auf das, was um ihn herum passiert und die Menschen im eigenen Umfeld. Geben wir dem Ichling eine/n Partner/in: Den Wirling – und ich bin überzeugt, sie werden ein kraftvolles und gestaltendes Paar mit einer großen Portion Selbstverwirklichung.